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Leseproben

Pestilenz

Pestilenz

urheberrechtlich geschütztes Material
 

„Die Krankheiten wandern hin und her, so weit die Welt ist, und bleiben nicht an einem Ort. Will einer viele Krankheiten erkennen, so wandert er auch – wandert er weit so erfährt er viel und lernt viel kennen.“  
Paracelsus (1493-1541)

 

Die karge Mansarde ist eiskalt und die junge, bleiche Frau zittert so stark, dass dem Publikum auch schon fröstelt. Ihr Geliebter muss sie stützen während er zärtlich versichert, sie sei schön wie die Morgenröte. Das Kompliment ist zu dick aufgetragen, seine Liebste seufzt im lyrischem Sopran er meine wohl den Sonnenuntergang. Dem Zuschauer schwant, es geht zu Ende. Opernfreunde erkennen den Zweigesang, in dem die todkranke Mimi und ihr Rodolpho tränenreich Abschied voneinander nehmen. Mit seiner überirdisch schönen Musik, machte Giacomo Puccini in seiner Oper La Bohéme die verblassende Stickerin unsterblich, auch wenn sie laut Libretto gerade der Tuberkulose erliegt. Wie Mimi hauchten und husteten damals viele Menschen ihr Leben aus, weil sie von Schwindsucht zerfressen wurden. Weil Puccini und viele andere das Dahinschwinden an der garstigen Infektion ästhetisch aufwerteten, unterschätzen wir, welch unendliches Leid die Seuche verursacht. Bis heute bringt sie Jahr für Jahr 1,5 Millionen Menschen einen qualvollen Tod, ganz ohne Soundtrack. Puccinis Oper zeigt klangvoll, warum die Heimsuchung Seuche sich nicht auf Erreger, Symptome und Krankheitsverläufe reduzieren lässt. Genau darum geht es in dem vorliegenden Buch. ich möchte das Ur-Trauma Plage mit all seinen Facetten und Komplexitäten betrachten. Als Anthropologin bewege ich mich im Grenzbereich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Unsereins nutzt Erkenntnissen aus vielen Disziplinen, um die Wirklichkeit der Menschen in geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeiträumen zu erforschen. Auch dafür, wie der Mensch sich entwickelt und dabei seine Umwelt verändert hat, interessiert sich meine Zunft. Ebenso haben natürlich auch Ökosysteme ihre Bewohner geprägt, nicht zuletzt durch Epidemien. Was sie erwartet ist ein Zeitreiseführer für eine Tour durch die lange Geschichte der Plagen, Seuchen und Pandemien. Wie in jedem Fremdenführer werden wichtige Schauplätze, Ereignisse und Traditionen beschrieben um anschaulich den Horizont zu erweitern. Ich möchte sie verständlich und süffig über ein elementares Thema informieren, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Die Erzählung wird nicht nur durch viele Fakten angereichert, sondern auch durch ein buntes Gemisch aus Anekdoten und Lebensläufen. Hin und wieder kommen auch Zeitzeugen zu Wort, wie zum Beispiel Sir Arthur Conan Doyle der mal als Arzt, mal in Gestalt seiner Schöpfung Sherlock Holmes zum Leser spricht.  Wie jeder gute Reiseführer soll ihnen mein Buch Lust auf unser Reiseziel machen. Klar, Plagen und Seuchen sind auf den ersten Blick nicht gerade verlockende Destinationen. Bei näherem Hinschauen findet der Reisende aber viel Staunenswertes auf seiner Tour entlang der Spur der Naturgewalt Infektionskrankheit, die uns bis in die Gegenwart entscheidend prägt. Ich will sie neugierig darauf machen, wie Menschen früher mit Masseninfektionen umgegangen sind. Lebensumständen und Zeitgeist einer Epoche lassen sich nicht einfach ausgraben oder nachlesen. Lange hinterließen nur gekrönte Häupter und andere Promis schriftliche Spuren. Wie es der Masse während einer Seuche erging, muss anhand eines Puzzles aus kurzen Randnotizen oder Kirchenbüchern, sowie aus archäologischen und anderen Indizien mühsam rekonstruiert werden. Welche Folgen hatten frühere Pandemien für unsere Vorfahren? Wie hat sich unsere Wahrnehmung von Seuchen geändert? Ich verspreche ihnen viele Parallelen aber auch ein paar entscheidende Unterschiede zur aktuellen COVID-19 Pandemie. Kurt Tucholsky regt an, der Enge der Zeit durch das Studium der Geschichte zu entfliehen, ähnlich wie Reisende die heimatliche Beschränktheit erst in fremden Ländern begreifen. Heute beherrscht die Corona Krise unsere Wirklichkeit, durch den Vergleich mit anderen epidemischen Katastrophen können wir dieser Tyrannei durch SARS-CoV-2 entkommen. Ein Streifzug durch vergangenen Plagen-Epochen hilft das gegenwärtige Pandemie-Trauma einzuordnen und relativiert so manche Verschwörungstheorie, versprochen. Und da geht noch mehr: Auf unserer historischen Sightseeing-Tour sehen wir, wie Umwelt, Infektionen und unser Verhalten zusammenhängen und erkennen welche Konsequenzen das im Hier und Jetzt für uns hat. Als ob Vergangenheitsanalyse und Gegenwartsverständnis nicht genug wären, bereitet uns dieses Buch auch auf die Zeit nach Corona vor. Da stehen nämlich, nach Meinung von Pandemie-Experten, ein paar wichtige Entscheidungen an, wenn wir ein ‚Encore‘ vermeiden wollen.
 

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